Frankfurter Rundschau berichtet

Goldenes Licht in staubigen Hallen (15. Juli 2004)
Der Künstler Setus Studt möchte aus einer riesigen Industriebrache in Itzehoe
den "Planeten Alsen" machen
VON JÖRN BREIHOLZ

Entdeckt hat er den magischen Moment vor zwölf Jahren an einem dieser ganz seltenen
nicht grau vermatschten Novembertage. Wenn die Sonne des späten Herbstes die
norddeutsche Tiefebene in ein Licht taucht, das einen goldenen Schimmer auf Felder,
Bäume, Höfe und Menschen legt. Setus Studt blieben an diesem Novembertag vor
zwölfeinhalb Jahren in der Alsen'schen Verladehalle nur wenige Minuten, um seine Nikon
auf das Stativ zu schrauben, die Blende aufzureißen und das Sonnenlicht einzufangen,
das die grauen Werkswände, die riesigen Drehschalter, die verrosteten Waagen und die
liegen gebliebenen Sackkarren mit einer goldenen Patina überzog. Ein Gemälde, eine
Inszenierung – und für den 49 Jahre alten Fotokünstler, der sein Geld mit Innenausbau
verdient, so etwas wie eine Inkarnation des "Planeten Alsen".

Nur ein, zwei Tage im Jahr fiel das Licht für kurze Zeit in diesem einzigartigen Winkel in
die alte Verladehalle. Jenen Minuten hat er jahrelang entgegengefiebert, um sie mit
seiner Kleinbildkamera festzuhalten. "Golden Rooms" heißt die Serie, in der die
verlassenen Räume der alten Betonfabrik geheimnisvoll wie ägyptische Säulenbauten
oder florentinische Patrizierhäuser schimmern. Diese Augenblicke werden nie wieder
kommen. Denn die alte Verladehalle ist abgerissen.

Alsen. Wie nicht wenige meinen, ist es der Schandfleck der Stadt. Jedem Zugreisenden
auf dem Weg nach Westerland bleibt dadurch die Kreisstadt Itzehoe in Erinnerung als
verrotteter Fleck, auf dem seit 20 Jahren ein Dutzend Industrieruinen vor sich hin
gammeln und keiner die Müllberge aus Beton, zerborstenen Glasscheiben und
verrosteten Stahlseilen wegräumt. Auf dem Gelände stürzte ein siebenjähriger Junge vor
den Augen seiner Eltern in ein achtzehn Meter tiefes Silo und starb, erfror ein
Obdachloser; ein 15 Jahre alter Hamburger Graffiti-Sprayer brach sich die Knochen und
konnte nur mit Hilfe einer 20 Meter langen Feuerwehrdrehleiter aus dem Inneren der
Industrieruine herausgezogen werden. Königliche Konzession

Alsen, wo heute Filmteams Krimis drehen, weil "wir so etwas Verrottetes in Hamburg
nicht gefunden haben", Pornoproduzenten junge Frauen in riesigen Betonsintern
kopulieren lassen und die norddeutsche SM-Szene ihr kleines Mekka gefunden hat.
"Selbst mitten im Winter sind die unglaublich heiß aufeinander vor dieser Kulisse", sagt
Setus Studt, der das Treiben auf dem Gelände seit fünfzehn Jahren mal wohlwollend, mal
abweisend betrachtet.

Studt ist der Dokumentar unter den Neugierigen, Spinnern und Kreativen, die jedes
Wochenende auf die Industriebrache im Kreis Steinburg pilgern, um im aufgeräumten
Norddeutschland mit seinen unkrautfreien Pflastersteinauffahrten vor den
Einfamilienhäusern einen letzten Rest wilden Wucherns zu finden. Alsen ist auch das
Mekka der Hamburger Graffiti-Szene, die ihre eigenen großformatigen Phantasien mit
immer neuen Motiven übersprühen. Auf unzähligen Fotos von Setus Studt haben sie
überlebt.

Studt, der Hans-Jürgen heißt und sich zu der Zeit, als "ich mich von allem befreien
wollte", den Vornamen Setus gegeben hat, kennt Alsen noch aus den Zeiten, als hier
jährlich Hunderttausende Tonnen Zement produziert wurden. Damals brannten die
Drehrohröfen bei Temperaturen von bis zu 2000 Grad ein Gemisch aus feucht
verpressten Filterkuchen, Bleicherde und Flugasche zu Klinkern, und bei der
Zementproduktion dampfte nicht nur heißer Rauch aus den langen Backsteinschloten,
sondern auch jede Menge feiner weißer Staub, der sich flächendeckend über die
angrenzenden Stadtviertel senkte. Seit 20 Jahren ist die Dreckschleuder geschlossen.

Die Anwohner sind froh, aber für die Älteren des kleinen Kreisstädtchens waren die
Alsenschen Schlote Insignie der Industrie, der Arbeit, des Wohlstands.
Hier am Ufer des Elbe-Seitenarms Stör schrieb der 26 Jahre alte Architekt Gustav Ludwig
Alsen schleswig-holsteinische Industriegeschichte, als er in den 60er Jahren des 19.
Jahrhunderts, noch zu Zeiten der dänischen Herrschaft über Schleswig-Holstein in
Kopenhagen, eine "Königliche Conzession für die Betreibung einer Cement- und
Kalkfabrik" erwarb. Mit zwei Bottichen, zwei Darren, drei Brennöfen und einer Mühle
legte Alsen los, verscholl aber kurz darauf in Brasilien. Sein Vater folgte ihm und
präsentierte bereits fünf Jahre nach der Gründung durch den Sohn die Alsen'schen
Produkte auf der Weltausstellung 1867 in Paris: Cement rasch, Cement halbrasch,
Cement langsam bindend.

Itzehoe, bis dato ein mehr oder weniger unbedeutender Flecken, wuchs mit der Höhe der
Schornsteine auf dem Alsengelände zu einem bedeutenden Industriestandort mit
internationalen Ambitionen. Schon fünfzehn Jahre nach Gründung der späteren
Alsen'schen Portland-Cement-Fabriken hatten die Itzehoer Zement-Produzenten ein
eigenes Lager in New York. Auch die Erbauer der Freiheitsstatue sollen die Qualität ihres
Zements geschätzt haben.

 

Leere Hallen, tote Kästen
Heute liegt andächtige Ruhe über den 180 0000 Quadratmetern Industriebrache, knarren
Fenster leise vor sich hin, treibt der Wind leere Spraydosen über den mit Scherben und
Schrott übersäten Boden, jagen Dutzende Vögel von Schornsteinen in die nutzlos
gewordenen riesigen Betonsinter und von dort in Büsche und Bäume.
Setus Studt liegt auf dem Bauch und fokussiert durch den aufgeschraubten Winkelsucher
zwei kopulierende Schnecken. "Das dauert ja wochenlang mit den Schnecken. Jetzt ist
der Augenblick da." Studt ist ein Perfektionist, der in den fünfzehn Jahren, die er
mittlerweile auf dem Gelände verbracht hat, die Zeit genutzt hat, um über
Vergänglichkeit und Werden, über äußere und innere Landschaften zu sinnieren.
Eigentlich wollte er malen, als er das Gelände kurz nach der Betriebsaufgabe Mitte der
80er zum ersten Mal betrat, dann den Zerfall mit der Kamera dokumentieren, und heute
sagt er, es gibt keinen Verfall auf Alsen. "Wir machen ja immer gleich eine
Verlustrechnung auf, wenn etwas kaputt geht. Dabei entsteht doch aber immer etwas
Neues." Metall wird Rost, nimmt Farbe von den Graffiti-Sprayern auf, blättert ab,
verwittert – und wird von ihm fotografiert. "Diesen Zerfall, diesen Prozess des Werdens
kriegst Du in unserer perfekten Welt nicht mehr geliefert", sagt er und zeigt auf eines
seiner Bilder, auf dem die Signatur des Graffiti-Künstlers "aussieht wie die von da Vinci",
der sich mit ähnlichen Themen befasst habe wie er.

Mit stoischer Ruhe nähert sich Setus Studt den schweigenden Förderbändern, leeren
Lagerhallen und abgedrehten Schaltkästen, schleicht vorsichtig über seit Jahren
unbetretene Dachböden und zeigt auf einen Arbeitshandschuh in einem Meer von
dunkelgrauem Staub, den er vor acht Jahren zum ersten Mal an dieser Stelle fotografiert
hat – und ist erleichtert, dass er da immer noch unbewegt liegt.

Betreten verboten steht auf dem Schild am ehemaligen Pförtnerhaus, an dem in guten
Zeiten täglich mehrere hundert Arbeiter vorbeizogen und noch in den 70ern jährlich mehr
als eine Million Tonnen Zement und Klinker produzierten. Als sich abzeichnete, dass Alsen
in Umweltstandards investieren muss, entschied sich die Geschäftsführung, im
benachbarten Lägerdorf direkt an den Kreidekuhlen gleich ein neues Zementwerk
hochzuziehen. Das über hundert Jahre alte Itzehoer Betonwerk mit seinem guten
Dutzend Industriegebäuden hinterließen sie einer Projektgesellschaft, die seitdem
versucht, aus dem Gelände Kapital zu schlagen. Mal waren Hotels, ein Segelhafen und
ein Sportgelände im Gespräch, meistens waren es Heimwerker- oder Tierfuttermärkte,
Supermarktketten und Gewerbebetriebe, die die Investoren ansiedeln wollten.

Doch im bald 20 Jahre währenden Gerangel mit der Stadtverwaltung, die das Überleben der
innerstädtischen Geschäftsleute sichern wollte, schafften es die Investoren gerade mal,
einen Supermarkt samt Parkplatz und einen amerikanischen Bulettenbrater auf dem 250
Hektar großen Gelände zu etablieren.

"Alsen ist die letzte Chance für Itzehoe, etwas zu schaffen, was dieser Stadt Identität
geben kann", glaubt Setus Studt, der in seinem Atelier im ehemaligen Magazin des
Zementwerks Sackkarren, lederne Chefsofas, Karteikästen und Schalteranlagen hortet.
Seine Vision ist die vom "Planet Alsen" als "einzigartigem Zentrum für die
Kulturlandschaft Schleswig-Holsteins", mit Werkstätten, stadtnahem Wohnen, Tourismus,
Gastronomie, Theater und Open-Air-Veranstaltungen.

Ein Künstler wird Ratsherr
Beeindruckend und engagiert sei das, was der Studt in den letzten Jahren auf die Beine
gestellt hat, hört man, wenn man mit wichtigen Menschen der Stadt redet. Zehn Jahre
lang hat er nahezu im Verborgenen zigtausende Aufnahmen gemacht und dabei eine
ganz eigene Fotosprache entwickelt, die mehr Gemälde ist denn Dokumentation. Seit fünf
Jahren macht er sich nun öffentlich für das ehemalige Betonwerk Alsen stark. Organisiert
Ausstellungen, lädt Klangkünstler und Filmer ein, holt Professoren und Studenten auf das
Gelände, die eigene Entwürfe konzipieren, und hat für den Erhalt der verbliebenen
Gebäude auf dem Alsengelände das Itzehoer Bürgerforum mitgegründet, eine
Wählervereinigung, die aus dem Stand heraus bei den vergangenen Kommunalwahlen 15
Prozent geholt hat. Seitdem ist Studt Ratsherr in der Itzehoer Stadtversammlung. Für
einen Künstler kann das lähmend sein, weiß Studt, denn "die Politik crosst mein Leben,
dass mir die Zeit für mein eigenes Schaffen wegläuft."
Spinner nennen sie ihn nicht mehr, aber, wenden sie ein, das rechne sich doch nicht,
wenn er von seinem "Planeten Alsen" erzählt, auf dem vor ihm Generationen der Stadt
ihr Leben verbracht haben und den er nun zum neuen Kulturzentrum mitten auf dem
platten Land machen will.

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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2004
Dokument erstellt am 14.07.2004 um 17:52:01 Uhr
Erscheinungsdatum 15.07.2004