Dawn over Alsen
(Text aus Booklet CD-Planet-Alsen "to be touched")
– Das Zementwerk an der Stör übte schon immer eine besondere Anziehungskraft auf mich aus.
Damals, als ich mit meiner Oma hinaus in die Welt nach Hamburg reiste, führte der einzige Weg mitten durch die Fabrik. Wer vom Süden oder Norden durch Itzehoe kam, musste durch Alsen, das der Stadt ihr graues Kleid verpasste.
Wie gerne hätte ich ins Innere dieses ständig dampfenden Ungeheuers geschaut. So sah ich nur seine Elefantenhaut und die Arbeiter, die es emsig am Leben hielten.
Eines Tages hielt der Riese den Atem an. 1985 kletterte ich zum 1. Mal durch seine stillgelegten Eingeweide über zahllose Stufen, Treppen und Leitern, entlang hoher Galerien und in geheimnisvolle Gänge. Hier und da glimmten noch rote und grüne Kontrollleuchten. Eine aufgeschlagene Rundschau, ein verschimmeltes Pausenbrot, ein Blaumann über einer Stuhllehne…
Immer wieder suchte ich diesen Ort auf, ohne je alles durchgeschaut zu haben. In meiner Phantasie setzten sich Bänder, Öfen und Getriebe wieder in Bewegung, mit deren Hilfe der Riese unvorstellbare Mengen von Kreide und Ton aus der Umgebung in sich hineinfraß. Ein Heer aus Arbeitern, Handwerkern, Technikern, Chemikern usw. sorgte für einen optimalen Stoffwechsel.
Mit solchen Bildern im Kopf spazierte ich über die erkalteten Drehöfen, die wie riesige Raketen in den Hallen lagen, Kulisse für einen phantastischen Film.
An solchen besonderen Orten drängt die Frage: Wie lange noch?
So versuchte ich diese Eindrücke mit der Kamera einzufangen. Dieses Unterfangen war schwierig, da das Gelände bewacht wurde. Schon nagten die Entsorger an der Fabrik. Die Mitte, das Zentrum mit seinen Riesenschloten, wurde gesprengt und der Abraum beseitigt.
Seitdem ist das Terrain sich mehr oder weniger selbst überlassen. Man hat den Zementdrachen ausgehöhlt, seine Eingeweide eingeschmolzen und die Haut hier und da durchlöchert. Aber über allem schwebt scheinbar sein Geist und behauptet den Platz. Der Drache schläft und wandelt sich. Dabei wird seine graue Haut zusehends bunter und zeigt immer neue Bilder, Formen und Zeichen. Kein Rauch mehr aus großen Schloten, sondern Farbnebel aus kleinen Dosen mit bunten Deckeln säumen seine Ränder, abgesehen vom Schrott, den ihm zwielichtige Gestalten wie Opfergaben vor die Füße legen. So schläft er in immer dichter werdendem Grün. Menschen suchen in ihm Schutz oder entfliehen dem Alltag, erzeugen "Alsenklänge" auf seinen Rippen, andere versuchen ihn unbedacht mit Hauen und Stechen zu nerven. Aber er ist zäh und bewahrt weiterhin eine geheimnisvolle Welt, die ich "Planet Alsen" nenne. Die Fotodrucke sind Zeugen davon.
"Manchmal, an kalten Abenden, verwandelt sich seine Haut sogar in Gold. Für die Chinesen ein äußeres Zeichen von Weisheit."
Setus Studt, Juni 2001
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Pressetext:
Was vor 15 Jahren als fotografisches Zeugnis für die Nachwelt begann, wurde für den fotografierenden Künstler Setus Studt schnell zu einer faszinierenden und vor allem kontinuierlichen Entdeckungsreise. Das ehemalige Alsenwerk in Itzehoe zeigt sich in seiner Arbeit von einer ganz anderen Seite. PLANET ALSEN ist alles andere als grau und offenbart sich in immer neuen Bildern, Formen und Zeichen. Eine Ausstellung unter demselben Namen ist derzeit im Innovationszentrum Itzehoe (IZET)zu sehen. Dort präsentiert der Fotokünstler Aufnahmen, die die Wandlung des Geländes im Laufe der Jahre akribisch und liebenvoll zugleich dokumentieren. Inmitten von Staub und Zerstörung zeigt er eine Landschaft, in der sich auch Sprayer, Filmemacher und Musiker der Subkulturszene heimisch fühlen. Studts Arbeit wird in hohem Maße von den besonderen Momenten des Lichts bestimmt. So musste er für seine Bilderserie "Golden rooms" auf genau zehn Minuten im Jahr warten, in denen die Ruinen von der untergehenden Sonne in goldene Patina getaucht werden. Auf ähnliche Weise entdeckte er auch "Pompejanische Räume", "Androiden" oder "Schlafende Drachen".
Einige dieser Bildserien wurden von dem Gitarristen und Komponisten Marc Melzer interpretiert. Daraus entstand die vorliegende CD "Planet Alsen".
Der aus Flensburg stammende Gitarrist bekam seinen ersten Gitarrenunterricht im Alter von zehn Jahren. nach drei Jahren hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt und gab danach viele Konzerte in ganz Deutschland. Er spielte sowohl solistisch als auch in verschiedenen kammermusikalischen Besetzungen. Seinen Abschluss als Diplommusiklehrer machte er in Hamburg und lebte danach seine künstlerische Reifeprüfung ab. Zurzeit unterrichtet er an Musikschulen in Norddeutschland, gibt Konzerte und komponiert Werke für Gitarre.
Bedanken möchten sich Marc Melzer und Setus Studt für die Unterstützung und Beratung bei 3Base, Uwe Wind, Alsen Breitenburg, dem IZET und all den lieben Freunden.